Berechtigte Fragen?


Gestern Nacht habe ich von einem Freund ein Video zugeschickt bekommen. Darin breitet Prof. Bhakdi (1) seine Gedanken aus; als offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel. Ein Wissenschafter, der die Massnahmen seiner Regierung kritisch hinterfragt. Sein in Fragen gehülltes Fazit ist klar: Der Stand der Erkenntnisse rechtfertigt diese massiven Einschnitte in die Bürgerrechte nicht. Was für ihn als Forscher zählt, sind empirisch erhobene und am doppelt validierte Studien. Es solle zuerst gründlich geforscht werden, bevor man Massnahmen beschliesst. Nur klare Kausalzusammenhänge begründen harte Einschränkungen. Alle müssen getestet werden. Berechtigte Forderungen von jemandem, der mehr weiss als unsere Regierung?

Untersuchungen und Forschungsergebnisse sind spärlich vorhanden. Das Corona-Virus scheint es schon lange zu geben, aber der Stamm, der die Krankheit jetzt auslöst, ist neu. Die Forderung nach einer breiten Datenlage ist daher unrealistisch. Die vermutete hohe Mortalitätsrate bei Alten und Risiko-Patienten gebietet es, früh zu handeln und eher zu restriktiv zu sein als zu lasch. Denn bei einem Virus, der sich schnell verbreitet, zählt jeder Tag. Wenn mein Computer sich einen Schädling einfängt und diesen an alle Kontakte weiter mailt, kappe ich sofort die Internetverbindung und untersuche erst anschliessend, was konkret geschehen ist.

Es gibt bei diesem neuen Virus, anders als bei der saisonalen Grippe, weder einen Impfstoff noch eine validierte und standardisierte Therapie. Noch nicht. Wir sind dem Virus schutzlos ausgeliefert und tun das einzig Mögliche: Die Ausbreitung durch social distancing verlangsamen.

Wäre es richtig, den Fragen im Video nachzugehen? Ja klar. Wäre es hilfreich, alle zu testen? Ja, denn dann wüssten wir, woran wir sind. Scheint dies im Moment Realistich zu sein? Vermutlich nicht, sonst würde es geschehen. Ist ein Wissenschaftler daran interessiert, für seine Forschung bessere Resultate und daher viele Test zu haben: ganz bestimmt.

Prof Bhakdi könnte Recht haben und die bisher beschlossenen Massnahmen gehen zu weit? Ich wäre genervt, angefressen und hätte vergebens zu Hause ausgeharrt. Wie wäre das andere Szenario, wenn die Massnahmen zu wenig weit gehen? Ich wäre dann verantwortlich für den Tod meiner Eltern, meiner Grosseltern und den Schwächsten in der Gesellschaft. Ich bin dankbar, in einem Staat zu leben, dessen Gemeinwohl sich am Wohl der Schwächsten misst, und nicht an dem der Stärksten.

Vielleicht ist Italien kein Referenzwert, aber dort sterben sie zu hunderten jeden Tag. Vielleicht ist Spanien kein Referenzwert, aber dort sterben sie zu hunderten jeden Tag. Vielleicht ist das Elsass kein Referenzwert, aber dort sterben sie zu hunderten jeden Tag.

In Italien wird vermutet, dass das Europacup-Spiel von Atlanta-Bergamo als Hotspot für die Infektion Tausender beigetragen hat. In Mailand führt man die Todesfälle auf die Fashion Week zurück. Im Elsass scheint die Gebets und Fastenwoche einer Freikirche massgeblich für die Weiterverbreitung verantwortlich zu sein(2).

Die Grippe vor zwei Jahren war vielleicht tödlicher als das Corona-Virus. Und? Jetzt gibt es eine aktuelle Notlage durch die hohe Übertragungsrate eines Virus, das man zu wenig kennt, dessen Auswirkungen kaum eingeschätzt werden kann und der an allen Orten, wo es zu Ausbrüchen kommt, zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führte: wegen der grossen Anzahl an schweren Verläufen, nicht verteilt über die Grippesaison, sondern innerhalb weniger Tage.

Die neusten psychologischen Studien zeigen, dass der Mensch mehr darauf bedacht ist, einen Schaden zu vermeiden und kein Risiko einzugehen, als einen Gewinn zu realisieren (3). Es könnte sein, dass wir alle zu sorgsam sind und die Massnahmen zu weit reichen. Das ist möglich. Für den Vater eines Kollegen waren wir zu wenig vorsichtig. Einige von uns Mitarbeitenden haben sich unwissentlich gegenseitig angesteckt. Drei davon haben die Krankheit überstanden und sind auf dem Weg der Besserung. Der eine aber hat seine Eltern infiziert. Sein Vater ist am Donnerstag gestorben. Er und seine Mutter sind auf der Intensivstation in kritischem Zustand.

Das Video von Prof. Bhakdi wirft eine grundsätzlichere Frage auf: Vertraue ich meiner Regierung? Gehe ich davon aus, dass sie mit den zur Verfügung stehenden, unvollständigen Daten, das entscheiden, was aus ihrer Sicht das Beste für die Bewohner der Schweiz ist? Vertraue ich der Mehrheit der Experten und Wissenschaftler, die die Regierung beraten oder höre ich auf vereinzelte Stimmen – die berechtigt, aber zur Unzeit – kritische Fragen stellen ohne selber Antworten zu liefern?

Mir passen die Massnahmen nicht. Ich will Menschen treffen, zusammen Bier trinken, mein Schwimmtraining fortsetzen, im Juli den IronMan Thun finishen, die Kids aus dem Haus haben, den IGW-Unterricht life durchführen, normal Gottesdienst feiern. Aber wäre ich bereit, für meine Wünsche das Leben andere zu riskieren? Nein! Darf ich die Entscheide des Bundesrates kritisch hinterfragen? Klar. Sollten wir nach der Krise hinschauen und auswerten, was besser gewesen wäre? Sicher! Aber im Moment scheint die Regierung das Richtige zu tun: Die Basler Fasnacht wurde rechtzeitig verboten, damit es nicht unsere Mailänder Fashion Week ist. Der Engadinder-Ski-Marathon wurde abgesagt, damit es nicht unser EuropaCup-Atlanta-Bergamo-Spiel ist. Unterhaltungs-Programme und Gottesdienste wurden eingeschränkt, damit sich die Gebets-und-FastenWoche-Ansteckung nicht wiederholt.

Was sagt es über mich aus, wenn ich der Regierung nicht vertraue? Mein Misstrauen zeigt zwei Dinge: Trotz der beschränkten Information durch Medien und oft skurrilen Youtube-Videos vermute ich, es besser zu wissen als die Experten des Bundes. Und es bedeutet zum zweiten, dass ich den Verantwortungsträgern verschwörerische Motive unterstelle. Machthaber, die eine medizinische Krise nutzen, ungerechtfertigt ihre Bürger zu kontrollieren, sie zu Hause einzusperren und ihre Freiheitsrechte einzuschränken, gehört nach Nordkorea oder Eritrea, aber nicht in die Schweiz. Unser Bundesrat dagegen diskutiert intensiv miteinander, informiert transparent, beschliesst mutig, was aus ihrer Sicht zum Wohl aller ist und zuerst den Schwächsten dient. Ich vertraue meiner Regierung – obwohl die ganze Situation und die beschlossenen Massnahmen einfach nur beschissen sind!

 


(1) Ich habe mir lange überlegt, ob ich das Video hier einfügen soll. Grundsätzlich möchte ich nämlich nicht zur weiteren Verunsicherung beitragen. Aber da ich in meinem Beitrag darauf verweise, können alle Interessierten es hier ansehen:

(2) Der Pastor der Freikirche meint nach seinem Krankenhausaufenthalt in einem dringlichen Aufruf, man solle den Verschwörungstheorien nicht glauben: http://www.ideaschweiz.ch/frei-kirchen/detail/videobotschaft-nach-krankenhausaustritt-112308.html?fbclid=IwAR2xJRBLBxZlpt52iodQK8MD73aDhLXnZmhcDk13ddfJQ7N8hPFhALNV-CY

(3) Siehe Daniel Kahnemann (2015). Schnelles Denken, langsames Denken.

Homeschooling – der Vorhof zur Hölle


2015 waren wir als ganze Familie für drei Monate im Sabbatical. Mit einem Wohnwagen sind wir durch Europa getourt. Unsere Kids, damals in den Klassen 2, 4 und 5 wurden vom Unterricht dispensiert. Meine Frau ist schliesslich Lehrerin. „Wir schaffen das locker“, war das Grundmantra. Die Realität schlug in aller Härte zu. Schule auf dem Zeltplatz, das Abarbeiten der Vorgaben der Lehrpersonen, das Aufarbeiten des verpassten Schulstoffes entwickelte sich vom Kleinkrieg bis hin zur völligen Zerstörung der Familien-Harmonie. Die Ankündigung des Bundesrates, alle Schulen bis Mitte April zu schliessen, hat uns mit gemischten Gefühlen hinterlassen. Die Kids waren euphorisiert, die Eltern im Panikmodus. Nach der Schockstarre liessen uns die Erfahrungen aus dem Zeltplatz-Schul-Versuch eine konkrete Strategie einschlagen.

Die Anzahl Jahre in der Schule entsprechen der Anzahl Monate, die wir zur Anpassung an ein neues Setting benötigen. Diese Regel hätte uns im Sabbatical viel Frust erspart. Sie besagt, dass ein Kind genauso viele Monate Anpassungszeit braucht, wie er oder sie bis jetzt an Jahren in der Regelschule war. Unsere Tochter, die damals in der vierten Klasse war, hätte vier Monate gebraucht, bis sie uns nicht nur als Eltern, sondern auch als Lehrperson akzeptiert hätte. Die Umstellung, dass wir in einer ungewohnten Rolle Aufgaben einfordern, Lerninhalte überprüfen und Disziplin verlangen, braucht Zeit. Der Rollenkonflikt, das neue Umfeld, die erhofften und doch nicht erfüllten Freiheiten, die Unlust am Unterricht führen beidseitig zu einer Überforderung und damit zu Reibungen. Unser Learning tönt banal: Zuerst ein Rhythmus entwickeln, dann erst Schulstoff einfordern.

Diese Woche ist das Internat Eichenberger gestartet. Wir haben am Sonntag unsere Tagesstruktur besprochen. Zwischen 8 und 9 Uhr gibt es Frühstück. Spätestens um 8:30 Uhr sitzen wir angezogen am Frühstückstisch. Von 9 bis 11 Uhr folgt der erste Schulblock, mit 10 Minuten grosser Pause. Von 11 bis 12 Uhr ist freie Bildschirmzeit: iPad, Switch, Kindle. Mittagspause ist von 12 bis 13:30 Uhr. Mit einer Stunde Sport, Musik oder Lesen beginnen wir den Nachmittag. Ab 14:30 Uhr ist eine Segenszeit geplant. Wir suchen nach Möglichkeiten, für jemand anderen etwas Gutes zu tun: Senioren anrufen, eine Karte schreiben, Medikamente und Lebensmittel einkaufen. Eine weitere Stunde Schule ab 15:30 Uhr schliesst den Nachmittag ab. Ab 17 Uhr folgt eine zweite Bildschirmzeit, in der die Switch auf Hochtouren läuft und unser Internet zusammenbricht. Nach dem Abendessen treffen wir uns um 19:30 Uhr vor dem Fernseher für einen Film oder ein paar Episoden der Familien-Soap.

Wir sind enorm dankbar, dass der Regierungsrat des Kantons die Schulen zurückgebunden hat. Am Wochenende liefen Lehrpersonen und Schulleitung im Hyper-Antrieb. Stündlich wurden wir mit neuen Infos und Unterrichtsaufträgen eingedeckt. In Lichtgeschwindigkeit fuhr unser Familienschiff auf Kollisionskurs zum Planeten Schulpflicht. Am Montag kam dann die Erlösung: Wir sind nicht verpflichtet, die Kinder zu beschulen, Aufträge zu kontrollieren, Schulstoff zu vermitteln, Fristen einzuhalten. Wir werden uns in den nächsten Wochen darauf konzentrieren, den erarbeiteten Rhythmus einzuüben. Dies erledigen wir mit aller Konsequenz und mit Inhalten, die den Kindern Lust und Freude bereiten. Sie definieren für sich selber bis zu drei Projekte, denen sie in der Schulzeit nachgehen werden: Das Zehnfingersystem erlernen (https://www.tipp10.com/de/), mit Unity und Scratch programmieren (https://www.udemy.com), den Gemüsegarten neu gestalten, SFR MySchool ausreizen, koreanisch lernen. Neben den üblichen Grabenkämpfen funktioniert dies bis jetzt optimal: Die Eltern sind happy, die Kinder leben, das Haus steht, der Garten blüht auf. Und falls die Schule dann doch auf die Idee kommt, uns als Lehrpersonen einzuspannen, sind wir hoffentlich vorbereitet.

Reich Gottes


Reich Gottes – das heisst, Gott ist nahe und ganz gegenwärtig und lässt seine Geschöpfe teilnehmen an seinen Eigenschaften, an seiner Herrlichkeit und Schönheit, an seiner Lebendigkeit und seiner Güte, weil Gott zugleich an den Eigenschaften seiner Geschöpfe teilnimmt, an ihrer Endlichkeit, an ihrer Verbwundbarkeit und an ihrer Sterblichkeit. Reich Gottes – das erfahren wir schon hier in der Liebe, denn „wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh 4,16) So erwarten wir es auch dort: die erlöste Schöpfung in Gott und der sich freuende Gott in der Schöpfung.

– Jürgen Moltmann

Kirche


Gott wird nur in seinem Gegenteil, in der Gottlosigkeit und Gottverlassenheit, als „Gott“ offenbar. Konkret gesagt: Gott wird im Kreuz des gottverlassenen Christus offenbar.
Wird ein Wesen nur in seinem Gegenteil offenbar, so kann eine Kirche des Gekreuzigten nicht aus einer Versammlung von Gleichen bestehen, die sich gegenseitig bestätigen, sondern muss konstitutiv aus Ungleichen bestehen.

– Jürgen Moltmann

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑